Interview mit dem norwegischen Friedensforscher und Träger des alternativen Nobelpreises, Johan Galtung. (Er spricht/sprach am 14.09.02 zur Demo in Köln ("Her mit dem schönen Leben") auf dem Podium der Friedensbewegung)

aus: Weltwoche , Heft 36 / 2002:

Es wird mit der Atombombe enden
 

Der Friedensforscher Johan Galtung erklärt, warum Amerika im
Kampf gegen das Böse bis zum Äußersten gehen wird und
weshalb George W. Bush und Osama Bin Laden einander ähneln.
Das Gespräch führten David Signer und Armin Guhl
 
 

Weltwoche: Herr Galtung, morgen fliegen Sie nach Sri Lanka, um
zwischen Konfliktparteien zu vermitteln. Was ist das für ein Gefühl:
zu wissen, da am Tisch sitzt jemand, der ist für Morde und Gräuel
verantwortlich?

Johan Galtung: Niemals moralisieren. Die Grundthese ist immer:
Alles wäre vermeidbar, wenn man nur schon vorher den Konflikt
ernst genommen hätte. Natürlich hat immer der andere Schuld.
Also frage ich am Anfang, wie die eine Konfliktpartei die andere
sieht. Und am Ende kommt die peinliche Frage: Was glauben Sie,
wie Ihr Gegenüber Sie betrachtet? Dann heißt es meistens: Ja, da
gibt's ganz viel Propaganda. Aber es ist eigentlich erstaunlich, wie
kurz diese Phase ist.

Weltwoche: Was hilft, um die Situation zu entkrampfen?

Johan Galtung: Humor ist sehr wichtig. Und Metaphern. Statt die Lage in
Sri Lanka zu analysieren, etwas über Nordirland sagen. Und dann kommt
immer der Punkt, wo jemand sagt: Das ist interessant, könnten Sie das etwas
näher erklären. Meistens meldet sich dann der Amateurpsychologe zu Wort
und sagt: Ja, aber die sind völlig anders als wir. Ich präsentiere oft
Schweizer Lösungen. Ja, die Schweizer, heißt es dann, die sind eben nicht
so heißblütig wie wir. Aber eigentlich weiß jeder, daß es nicht darum
geht.

Weltwoche: Die erste Voraussetzung aber ist wohl, daß sich die
Konfliktparteien an einen Tisch setzen.

Johan Galtung: Nein, die Diplomaten machen immer den gleichen Fehler: Sie
wollen die gegnerischen Parteien um einen einzigen Tisch setzen. Das geht
nur, wenn sie alle gut vorbereitet und bereits auf einer "höheren Ebene"
sind, auch geistig. Konfliktlösung hat mit Kreativität zu tun, und niemand
ist kreativ, wenn er einem Mörder gegenüber sitzt, und zwar dem Mörder
seiner Verwandten, Nachbarn. Dann verlangt man von ihm, kreativ zu sein,
während sein Blut kocht? Das geht nicht.

Weltwoche: Konkret: Wie würden Sie einen Krieg zwischen Amerika und dem
Irak vermeiden?

Johan Galtung: Es ist immer eine Frage der Zielsetzungen der verschiedenen
Parteien. Die Ziele des Iraks sind einfach. Sie haben mit Grenzziehungen
gegenüber Kuwait und Iran zu tun, mit der gemeinsamen Ausbeutung der
Ölfelder, mit der Devisenlage nach dem Krieg 1980-1988. Wenn man über das
Verbrechen der Besetzung Kuwaits - damals 19. Provinz des Iraks, der Teil
des Osmanischen Reichs war - durch britische Truppen am Ende des 19.
Jahrhunderts gesprochen hätte, hätte man auch viele Probleme nicht gehabt.

Weltwoche: Welche Interessen hat Amerika?

Johan Galtung: Meine These ist, daß es den Amerikanern darum geht, ein
Land zu finden, das Saudi-Arabien ersetzen kann. Die USA werden
Saudi-Arabien aufgeben und es als Feind verstehen. Wenn 19 Araber, 15 von
ihnen aus Saudi-Arabien, am 11. September das World Trade Center und
das Pentagon in den USA angreifen, dann könnte es sein, daß das etwas
mit Saudi-Arabien und diesen Gebäuden zu tun hat. Diese These findet man
auch in der Weltwoche nicht. Sie ist zu klar und zu einfach.

Weltwoche: Sie glauben also, daß Saudi-Arabien hinter den Anschlägen
steckt?

Johan Galtung: Nein, der Wahhabismus. Er ist die Staatsreligion in
Saudi-Arabien, sehr fundamentalistisch und dem Puritanismus auf
amerikanischer Seite sehr ähnlich. Das hat mit Tiefenkultur zu tun. Aber
das eigentliche Problem ist der Vertrag zwischen den USA und Saudi-
Arabien von 1945. Er ist den meisten unbekannt. Dort steht, daß die USA
Zugang zu den Ölquellen haben, im Gegenzug garantieren sie der
Herrscherfamilie den Schutz gegen Opposition. Denn die al-Sauds wußten:
Was wir jetzt mit dem schwarzen Gold tun, ist mit dem Wahhabismus nicht
vereinbar. Sie haben die Bevölkerung bestochen, und es hat funktioniert.
Bis zum 11. September. Niemand in den USA hat verstanden, daß es eine
grausame Beleidigung für den Glauben dieser Leute war. Denn der
Wahhabismus ist asketisch, geistig, nichtmaterialistisch: Geld zerstört die
Verbindung zu Allah. Die Wahhabiten verbieten jegliche Ausschmückung
der Moscheen. Und nun kam im Kielwasser des Öls all dieses Geld. Jetzt
hat das Königshaus ein großes Problem: Ist es auf der Seite der
Amerikaner oder des Wahhabismus? Um zu überleben, ist es plötzlich
ganz wichtig geworden zu zeigen, daß sie gute Wahhabiten sind. Sie
sagten den USA kurz nach dem 11. September: Raus. Die Amerikaner
waren empört und überrascht. Und versuchten den Medien weiszumachen,
daß es nicht wahr war. Es war aber wahr. Meine These ist also: Der Irak
ist ein Ersatzland für Öl und Militärbasen.

Weltwoche: Er kann aber vom Ölvolumen her nie Saudi-Arabien ersetzen.

Johan Galtung: Doch. Die Ölvorräte in Saudi-Arabien scheinen zur Neige zu
gehen.

Weltwoche: Die Argumentation der USA, Saddam Hussein halte
Massenvernichtungsmittel bereit, sei eine Gefahr für den Weltfrieden...

Johan Galtung: ... ist falsch. Sie haben etwas gehabt, aber das ist alles
zerstört. Die USA haben den Irak ja selber mit "kritischem Uran"
bombardiert, und das ist Massenvernichtung. Es geht um das, was die
Psychologen "Projektion" nennen.

Weltwoche: Projektion?

Johan Galtung: Das Problem sind nicht die Massenvernichtungswaffen. Die
USA haben eine Liste von Grundsätzen. Die ist lang und nicht öffentlich.
Man muß zum Beispiel wissen, was JCS 570/2 ist.

Weltwoche: Was ist das?

Johan Galtung: Ja, sehen Sie. Das ist die strategische Bibel der USA von
1944. Sie skizziert die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, und alles,
was dort steht, haben sie umgesetzt.

Weltwoche: Wollen Sie damit sagen, daß sich an der Zielsetzung der
amerikanischen Außenpolitik seit sechzig Jahren nichts geändert hat?

Johan Galtung: Überhaupt nichts. Alles nur eine Frage von Gelegenheit
und Möglichkeit. Die geopolitische Doktrin der USA seit Anfang des
Jahrhunderts lautet: Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht Zentralasien,
wer Zentralasien beherrscht, beherrscht Eurasien. Und wer Eurasien
beherrscht, beherrscht die Welt. Die Welt beherrschen bedeutet zweierlei:
den Welthandel kontrollieren und militärisch dominieren. Dafür standen
das World Trade Center und das Pentagon. Die amerikanische These,
die Anschläge hätten sich gegen die westliche Zivilisation gerichtet, ist
nicht stichhaltig. Es ging ganz konkret gegen die ökonomische und die
militärische Dominanz Amerikas.

Weltwoche: Also kein Kampf der Kulturen?

Johan Galtung: Die Amerikaner sind überzeugt, sie seien von Gott
auserwählt und die USA seien ein gelobtes Land. Gegen dieses gelobte Land
Gewalt auszuüben, ist ein Verbrechen gegen Gott. Bisher haben dies nur
zwei Mächte gewagt: die Japaner und die Terroristen. Bei Japan endete es
mit zwei  Atombomben, deshalb ist es wahrscheinlich, daß es auch diesmal
mit  Atombomben enden wird. Mit göttlichen Waffen.

Weltwoche: Atombomben gegen den Irak?

Johan Galtung: Nein. Wenn die Amerikaner einen Verdichtungspunkt finden,
die Quelle des Übels, könnten sie sie einsetzen. Nicht weil es militärisch
effektiv ist, sondern psychologisch. Das Fegefeuer. Für die Amerikaner war,
noch vor Hiroshima und Nagasaki, klar, daß Japan kapituliert hatte. Sie
hatten nicht Rache im Sinn, sondern Strafe. Das ist die amerikanische
Tiefenkultur: Wir sind so hoch oben, so nahe bei Gott, daß die normalen
Gesetze der Menschheit nicht auf uns anwendbar sind. Internationale Gesetze?
Ja, aber nur, wenn sie unseren Zielen dienen. Uno-Truppen sind Feiglinge.
Denn die eigentliche militärische Arbeit besteht darin zu töten, und das
machen wir.

Weltwoche: Wenn Sie amerikanischer Präsident wären, was hätten Sie am 12.
September gemacht?

Johan Galtung: Ich hätte Larry King gebeten, eine Stunde mit Bin Laden zu
verbringen. Dann hätte CNN seine Partner von Al-Dschasira angerufen, um
die geeignete Grotte zu finden... Kein Witz. Larry King hat ein
außerordentliches Talent. Wobei: Vielleicht wären zwei Sendungen besser.
Zuerst Larry mit Georgie, dann Larry mit Ossi. Und dann sagt Larry zu
Georgie: Ossi hat jetzt das und das gesagt. Direkt wäre es vielleicht
nicht gegangen.

Weltwoche: Sie vermuten Bin Laden hinter den Anschlägen?

Johan Galtung: Bin Laden hat den bekannten Text verfaßt, in dem steht,
jetzt seien endlich die Amerikaner gedemütigt worden, nachdem mehr als
achtzig Jahre lang die Muslime gedemütigt worden seien. 1916/17 waren die
schlimmsten Jahre in der arabischen Geschichte. (Das Sykes-Picot-
Abkommen von 1916, in dem England und Frankreich ihre Interessesphären
im Nahen Osten absteckten, wurde von den Arabern als Verrat empfunden,
weil es ihre Hoffnung auf Unabhängigkeit enttäuschte; die
Balfour-Deklaration von 1917 ebnete den Weg zur Gründung des Staates
Israel, A.d.R.). Aber ich glaube nicht, daß die Anschläge von Bin Laden
organisiert wurden. Er war selber überrascht. Die 19 Attentäter hatten das
organisiert. Experten in Ägypten und Pakistan meinen, daß es al-Qaida gar
nicht gebe. Sie sei in Washington erfunden worden. Die Amerikaner
bräuchten so ein Phantombild.

Weltwoche: Die USA haben aber nicht sofort zurückgeschlagen, sondern erst
mal Allianzen gebildet.

Johan Galtung: Die Entscheidung war sofort klar. Außenminister Colin
Powell sagte: "We are going to identify al-Qaeda and crush it." Die Uno
ist nur aus einem Grund interessant: Legitimierung. Außerdem braucht die
Kriegsvorbereitung Zeit. Der Krieg gegen Saddam wird wahrscheinlich im
Oktober losgehen.

Weltwoche: Daß sich eine Nation nach einem Terroranschlag militärisch
wehrt, ist doch legitim.

Johan Galtung: Ich verstehe es völlig. Aber es wird nichts lösen. Es wird
weitere Gegenschläge provozieren, schlimmer als am 11. September.

Weltwoche: Die USA sollen noch die andere Wange hinhalten?

Johan Galtung: Ach, überlassen Sie das den Christen! Ich mache sehr
konkrete Vorschläge. Gewalt schafft Gegengewalt...

Weltwoche: ...aber ist oft die einzige Option. Siehe Hitler.

Johan Galtung: Falsch, es gab eine wunderbare Option: die Revision des
Versailler Vertrags. Man hätte nicht das ganze deutsche - und nur das
deutsche - Volk bestrafen sollen. Diesen Fehler hat man 1945 ja auch nicht
wiederholt. Was die Ablehnung des Versailler Vertrags betrifft, hatte
Hitler die Unterstützung der Deutschen, in den anderen Punkten, etwa der
Judenvernichtung, nicht.

Weltwoche: Aber hatte man 1939 noch Alternativen? Oder am 11. September?

Johan Galtung: Nein, 1939 nicht mehr. Am 11. September auch nicht. Aber im
Mai vergangenen Jahres wäre noch vieles möglich gewesen. Ich habe damals
sechs Punkte vorgeschlagen: 1. Truppen raus aus Saudi-Arabien. Das wäre v
ielleicht eine annehmbare Entschuldigung gewesen für die Demütigung. 2. Ja
zu einem palästinensischen Staat. Über Details hätte man nachher reden
können. 3. Herausfinden, was die eigentlichen Zielsetzungen des Iraks
sind. 4. Einen Dialog mit Chatami im Iran. 5. Keinen Krieg gegen
Afghanistan, um Ölquellen zu erobern und eine Militärbasis zu haben, weil
dies genau das Bild bestätigt, das die Araber von den Amerikanern haben.
6. Versöhnung zwischen Amerikanern und arabischen Opferländern, und zwar
nach dem Vorbild der Deutschen. Die haben das nach dem Krieg meisterhaft
gemacht. Wenn man von den sechs Vorschlägen drei im Mai realisiert hätte,
hätte es keinen 11. September gegeben.

Weltwoche: Sie geben fast alle Schuld Amerika, aber das Land hat doch der
Welt auch viel gebracht: Freiheit, es ist die älteste Demokratie...

Johan Galtung: Klar gibt es innerhalb der USA eine gewisse Demokratie. Ich
habe acht Jahre dort gelebt. Das heißt aber nicht, daß die Amerikaner auch
auf der Weltbühne demokratisch sind. Sie haben keinen Respekt vor der
Uno oder vor einem internationalen Gerichtshof. Demokratie bedeutet nicht
nur Wahlen, sondern auch Respekt und Dialog. Gemeinsam neue Lösungen
finden. Wann haben die USA einen Dialog mit al-Qaida zu führen versucht?

Weltwoche: Aber Sie sagen selber, das waren 19 Individuen,
Selbstmordattentäter. Kann man mit solchen Leuten einen Dialog führen?

Johan Galtung: Vielleicht nicht mit den 19, aber mit ihren Familien, den
Angehörigen, Nachbarn. Stattdessen bestätigt Washington jeden Tag die
Annahmen der Fundamentalisten. Am 30. Mai unterzeichneten die USA
einen Vertrag mit Turkmenistan über eine Pipeline. Es geht um Öl aus
Nordafghanistan und Kandahar. Damit werden alle Vorurteile bestätigt.

Weltwoche: Aber es ist doch gut, daß die Taliban gestürzt wurden, auch
wenn es nur ein Nebeneffekt war.

Johan Galtung: Ja. Aber dann gäbe es viele Regimes, die man wegbomben
müßte. Und es war vielleicht nicht mal im Interesse Afghanistans. Man
sollte die Taliban weiterhin in die nationale Regierung einbinden. Eine
hundertprozentige Taliban-Regierung ist schrecklich. Aber eine ganz ohne
sie ist auch keine Lösung. Es gibt bessere, gewaltfreiere Methoden, eine
Regierung abzulösen. Erinnern Sie sich an die Montagsdemonstrationen in
der DDR? Ich bin nicht aus moralischen Gründen gegen Bombardieren; es
funktioniert nicht, es ist dumm.

Weltwoche: Sie gehen davon aus, daß jeder Mensch für gute Argumente
zugänglich ist?

Johan Galtung: Nein, aber oft gibt es ein Umfeld, das zugänglich ist. Ich
habe Tausende Vermittlungsdialoge geführt. Meine Erfahrung ist, daß es in
jedem Menschen etwas gibt, worauf man bauen kann.

Weltwoche: Kommen Sie oft selber in die Schußlinie?

Johan Galtung: Manchmal bin ich überrascht, daß ich überlebt habe. Ich bin
71, guter Gesundheit, man hat mich bis heute nicht vergiftet. Ich bekomme
manchmal böse Briefe, aber das ist nicht so schlimm. Ich versuche einfach,
lösungsorientiert zu arbeiten. Ich glaube, daß es Lösungen gibt.
Meistens ist das für die Leute eine gute Nachricht, weil sie glauben, es
gebe keine Alternativen mehr.

Weltwoche: Wie zum Beispiel in Israel.

Johan Galtung: Auch da gibt es eine Lösung, allerdings keine bilaterale.
Dafür gibt es zu viel Haß, Leiden, Blut. Aber es könnte eine Lösung geben
unter Einbezug der Nachbarländer. So wie es keine Lösung hätte geben könne
n nur zwischen Deutschland und Frankreich, aber zusammen mit andern
europäischen Ländern ging es. Bilateralen Haß abbauen in multilateralem
Umfeld. Ich habe diese Ansicht die letzten Jahre oft eingebracht, und ich
glaube, sie reift langsam. Vielleicht ist es in fünf Jahren so weit.

Weltwoche: Warum sollte der Stärkere nachgeben?

Johan Galtung: Weil er in Wirklichkeit der Schwächere ist. Er sieht nur
stark aus. Hätte Bush nach dem 11. September gesagt: Offenbar haben wir
die religiösen Gefühle vieler Menschen in Saudi-Arabien beleidigt, und
hätte er die amerikanischen Truppen aus Saudi-Arabien zurückgezogen,
hätte ihn die ganze arabische Welt umarmt. Und er hätte fünzig Milliarden
Dollar gespart. Aber Bush hat nicht das persönliche Format hierfür.
Weltwoche: Der Ölindustrie?

Johan Galtung: Es ist komplizierter und hat wieder mit der Tiefenkultur zu
tun. Für Bush war der Terrorschlag ein "cultural assault", ein Angriff auf
die amerikanische Kultur. Bush ist davon überzeugt, daß die Amerikaner
eine kulturelle Botschaft haben. Sie in die Welt zu tragen, ist seine
eigentliche Mission. Öl und Militär sind nur Nebensachen, bequem für die
Marxisten und die realpolitische Analyse. Aber die kulturelle Analyse
bringt uns weiter.

Weltwoche: Was ist denn die Tiefenkultur der Deutschen?

Johan Galtung: Die hat sich verändert, bis zu einem bestimmten Punkt. "Am
deutschen Wesen soll die Welt genesen" war ein Ausdruck dafür. Die
Ausstrahlung. Daß in der Gesellschaftsstruktur und in der Persönlichkeit
etwas eingebaut sei, was für die Welt ein Geschenk sei. Deshalb müßten
die Deutschen oben sein. Diese Einstellung gab es schon lange vor Hitler.
Zur Kaiserzeit, etwa ab 1200. Heute ist es anders.

Weltwoche: Aber Schröder spricht neuerdings vom "deutschen Weg".

Johan Galtung: Das macht mir Angst. Ich möchte gerne einen menschlichen
Weg finden. Ich sage immer: Ich finde es wunderbar, wenn die Deutschen auf
der Suche nach einem Sinn sind. Wenn sie ihn gefunden haben, dann wird es
ernst. Dann glauben sie daran.

Weltwoche: Was uns noch mehr interessieren würde: die Tiefenkultur der
Schweizer...

Johan Galtung: ...läßt sich thesenartig in einem Satz zusammenfassen: "Wir
sind ein Sonderfall, wir stehen ganz außerhalb der Welt, und deswegen sind
wir nicht nachahmbar." Darum sind die Schweizer auch nicht so gute
Botschafter für die Welt. Ich glaube, daß die Schweiz eine Menge gute
Lösungen gefunden hat. Aber warum machen sie nicht mehr daraus? Weil sie
denken, daß dies nichts für andere Leute ist. Ich schlug einmal bei einer
Konferenz vor, Kosovo als unabhängiges Land mit einem oder zwei serbischen
Kantonen zu konzipieren. Man könnte alles zweisprachig anschreiben, wie
die viersprachig beschrifteten Milchkartons in der Schweiz. Als Beispiel
zeigte ich eine Schweizer Zehnernote. Die Leute hatten keine Ahnung, daß
so etwas überhaupt existiert und möglich ist. Kein Schweizer ist da
gewesen, um ihnen zu sagen: Wir haben ein Modell, das interessant ist.
Interessant auch für Afghanistan mit seinen zwölf Nationen.

Weltwoche: Und dennoch haben Sie gewisse Sympathien für den
schweizerischen Sonderweg.

Johan Galtung: Wenn man eine alternative Politik hat, muß man dafür
einstehen. Das kann man auch in der EU. Aber dann muß man sagen: Ja, wir
möchten Mitglied sein, und wir würden gerne Folgendes bewirken. Die
Schweiz sagt das nie. Stattdessen fordert sie, den Güterverkehr von der
Straße auf die Schiene zu verlegen, aber das betrifft ja nur die Schweizer.
Deswegen sind sie keine guten Demokraten, denn Demokratie ist Dialog,
und da muß man reden.

Weltwoche: Die Schweizer sind keine guten Demokraten?

Johan Galtung: Gegenüber der EU. Ich sähe beispielsweise gerne, daß die
Regierung sagen würde: Wir haben Volksentscheide in der Schweiz,
Initiativen und Referenden. Ist die EU dazu bereit?

Weltwoche: Das ist aber nicht der Grund, warum Sie in Frankreich wohnen
und nicht in der Schweiz?

Johan Galtung: Ich schaue die Schweiz gern an. Aber man sieht besser, wenn
man ein bißchen außerhalb ist.

Weltwoche: Wie steht es denn mit der Lernfähigkeit von Nationen?

Johan Galtung: Es ist tragisch, aber es scheint, daß es meist nur über
Katastrophen geht. Es ist ja genau dasselbe mit den Individuen. Sie kommen
zum Therapeuten, wenn sie eine schlimme Krise erlebt haben. Es wäre aber
nicht schlecht, wenn sie früher kommen würden.

Weltwoche: Welches Land gehört denn Ihrer Ansicht nach vor allem auf die
Couch?

Johan Galtung: Heute wären die USA der Hauptkandidat. Es müßte also eine
ganz große Couch sein. Aber ich glaube auch, daß die USA die Fähigkeit
haben umzudenken. Nicht heute, aber vielleicht morgen. Ich könnte mir
vorstellen, daß ein Präsident kommen wird, der sagt: "Americans, I have an
important message tonight: Wir sind nicht allein, aber meistens sind wir
selber daran schuld, wenn wir Probleme haben."

Weltwoche: Mit welchem Menschen würden Sie jetzt am liebsten eine Stunde
verbringen?

Johan Galtung: Mit Bush und Bin Laden. Ich lehne beide als
Fundamentalisten ab, sie haben dieselbe Tiefenkultur. DMA, wie ich das
nenne: Dualismus, Manichäismus, Armageddon. Dualismus: Die Welt ist
zweigeteilt. Manichäismus: Es gibt die Bösen und die Guten. Armageddon:
Das kann nur mit einer Endschlacht entschieden werden.

Weltwoche: Bei welchem der beiden hätten Sie mehr Hoffnung auf ein gutes
Gespräch?

Johan Galtung: Also, der Intelligentere ist bestimmt Bin Laden. Wenn
Intelligenz eine Zugangstür ist, könnte ich diese Tür öffnen. Auch bei
Bush gäbe es etwas: das Amerikanische. Ich könnte ihn fragen: Wäre es
nicht besser für Amerika, sich durch Demokratie und Dialog auszuweisen?
Wie zum Beispiel mit einer Initiative für ein Uno-Parlament. Eine
Stimme pro Million Einwohner. Das heißt 270 Stimmen für die USA, aber 1250
Stimmen für die Chinesen. Es wäre problematisch, aber die Welt würde die
USA umarmen.

Weltwoche: Und die Amerikaner hätten nichts mehr zu sagen.
Einmal umarmt, und das wäre das Ende.

Johan Galtung: Nein, sie hätten immer noch 270 Stimmen. Sie
könnten sich gut vorbereiten, und das machen sie ja auch häufig,
wenn sie gut arbeiten.

Weltwoche: Und Sie glauben, Bush würde sagen: Yes, Mister
Galtung, you are right?

Johan Galtung: Die Frage war nur, mit wem würde ich gerne
zusammentreffen... Im Übrigen bin ich nicht davon überzeugt, daß
der Weg über Bush oder Bin Laden gehen muß.

Weltwoche: Sie sind Optimist. Aber wenn man wie Sie davon
ausgeht, daß Bush und Bin Laden Brüder im Geiste sind, was das
Ziel der Endschlacht angeht - da müßte man doch verzweifeln.

Johan Galtung: Oder die beiden analysieren. Es geht jetzt eine
Welle von Kritik am Fundamentalismus durch die arabische Welt,
weil die Araber zu Recht sagen: Die verbreiten ein schlechtes Bild
des Islams in der Welt. Ich erwarte jetzt dieselbe Bewegung in den
USA, gegen den amerikanischen Fundamentalismus. Das kommt.
Da bin ich zuversichtlich.
 
 

WELTWOCHE, Heft 36 / 2002