Neue Revolten gegen das System
(veröffentlicht in: New Left Review 18, Nov-Dez 02)
Der lang andauernde Widerstand gegen die etablierte Ordnung:
Repräsentiert das Weltsozialforum nach hundertzwanzig Jahren sozialistischer und nationalistischer Revolten einen qualitativ neuen Zusammenschluss von Kräften und Strategien für den Wandel?
Ich habe den Begriff "antisystemische Bewegung" in den siebziger Jahren
geprägt, um eine Formulierung zur Verfügung zu haben, die das
zusammenführte, was historisch und analytisch zwei unterschiedliche
und in vielerlei Hinsicht rivalisierende kollektive Bewegungen waren, diejenigen,
die unter dem Namen "sozial" und jene, die als "national"
bekannt waren. Soziale Bewegungen wurden vorrangig als sozialistische
Parteien und Gewerkschaften gebildet. Sie strebten danach, den Klassenkampf
gegen die Bourgeoisie oder die Arbeitgeber im jeweiligen Land voran zu
bringen. Nationale Bewegungen kämpften für die Schaffung
eines Nationalstaates, entweder durch die Vereinigung getrennter
politischer Einheiten, die als Teil einer Nation betrachtet wurden wie
zum Beispiel in Italien oder durch Abspaltung der jeweiligen Nationen
von Staaten, die als imperial und repressiv wahrgenommen wurden zum Beispiel
die Kolonien in Afrika und Asien. Beide Formen dieser Bewegungen entwickelten
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mächtige
bürokratische
Strukturen und wurden mit der Zeit immer stärker. Beide tendierten
dazu, ihren Zielen Vorrang vor allen anderen politischen Zielen zu geben,
insbesondere vor den Zielen ihrer nationalen und
sozialen
Rivalen. Dies führte oft zu ernsten gegenseitigen Beschuldigungen.
Die beiden Formen kooperierten nur selten politisch und, wenn sie dies
taten, betrachteten sie solche Kooperationen als vorübergehende taktische,
aber nicht als grundsätzliche Allianzen. Trotzdem enthält die
Geschichte dieser Bewegungen zwischen 1850 und 1970 eine Reihe gemeinsamer
Merkmale. Die meisten sozialistischen und nationalistischen
Bewegungen bezeichneten sich selbst immer wieder als "revolutionär",
das heißt, sie standen für tiefgreifende Veränderungen
der sozialen Verhältnisse. Tatsächlich gab es in beiden
Formen gewöhnlich einen gemäßigten Flügel,
manchmal in einer separaten Organisation. Dieser trat für eine schrittweise
Veränderung ein und vermied revolutionäre Rhetorik. Aber
im allgemeinen betrachteten die Mächtigen jede dieser Bewegungen,
auch die gemäßigteren Gruppierungen, anfangs und oft für
viele Jahrzehnte als Bedrohung für die Stabilität oder sogar
für das Überleben ihrer politischen Strukturen. Zweitens waren
beide Varianten in ihren Anfängen politisch verhältnismäßig
schwach und mussten hart um ihr nacktes Überleben kämpfen. Sie
wurden von ihren Regierungen unterdrückt oder verboten, ihre Anführer
wurden verhaftet und ihre Mitglieder oft systematischer Gewalt durch staatliche
oder private Kräfte ausgesetzt. Viele frühe Gruppierungen dieser
Bewegungen wurden völlig zerstört. Drittens durchliefen beide
Formen dieser Bewegungen in den drei letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
zugleich eine lange Debatte über ihre Strategie, wobei diejenigen,
deren Perspektiven "staatsorientiert" waren, gegen diejenigen auftraten,
die den Staat als den eigentlichen Feind ansahen und stattdessen die individuelle
Veränderung betonten. Für die
sozialen Bewegungen fand
diese Debatte zwischen Marxisten und Anarchisten statt, für die nationalen
Bewegungen zwischen politischen und kulturellen Nationalisten. Was historisch
gesehen in diesen Debatten geschah und das ist die vierte Ähnlichkeit
war, dass die Vertreter der "staatsorientierten" Positionen gewannen.
Das entscheidende Argument in jedem Fall war, dass die unmittelbare Quelle
realer Macht im Staatsapparat ausgemacht wurde und dass jeder Versuch,
seine zentrale politische Bedeutung zu ignorieren, zum Scheitern verurteilt
war, da der Staat erfolgreich jeden Vorstoß in Richtung Anarchie
oder kulturellem Nationalismus unterdrücken würde.
Im späten 19. Jahrhundert propagierten diese Gruppen eine so genannte
Zwei-Schritt-Strategie:
Zuerst Macht innerhalb der staatlichen Strukturen gewinnen,
- dann die Welt verändern. Das galt sowohl für die sozialen
als auch für die nationalen Bewegungen. Das fünfte gemeinsame
Merkmal ist weniger offensichtlich, aber deswegen nicht weniger real. Sozialistische
Bewegungen übernahmen oft nationalistische Rhetorik in ihren
Argumenten, während der nationalistische Diskurs oft eine soziale
Komponente hatte. Das Ergebnis war, dass die beiden Positionen mehr verschwammen
als ihre Vertreter jemals zugegeben hätten. Es wurde häufig behauptet,
dass die sozialistischen Bewegungen in Europa oft eine wirkungsvollere
Kraft der nationalen Integration ausübten als die Konservativen oder
gar der Staat selbst. Die kommunistischen Parteien hingegen, die in China,
Vietnam oder Kuba an die Macht kamen, traten eindeutig als nationale
Befreiungsbewegungen auf.
Es gab dafür zwei Gründe.
Erstens zwang der Mobilisierungsprozess beide Gruppen, immer größere
Bevölkerungsteile auf ihre Seite zu ziehen, und eine offenere Rhetorik
war dabei hilfreich.
Aber zweitens erkannten die Anführer beider Bewegungen oft unbewusst,
dass sie einen gemeinsamen Feind im bestehenden System hatten, und deshalb
mehr mit einander gemein hatten als ihre öffentlichen Aussagen zuließen.
Die Prozesse der Volksmobilisierung, die in beiden Bewegungen entwickelt
wurden, waren im Grunde genommen sehr ähnlich. Beide Formen begannen
in den meisten Ländern als kleine Gruppen, oft nur eine Handvoll Intellektueller
gemeinsam mit einigen Militanten aus anderen Schichten. Wenn sie Erfolg
hatten, so deshalb, weil sie in der Lage waren, durch lange Bildungs- und
Organisationskampagnen eine Volksbasis von Militanten, Sympathisanten und
passiven Unterstützern in konzentrischen Kreisen zu bilden. Wenn der
äußere Kreis von Unterstützern groß genug geworden
war, dass die Militanten operieren konnten wie, nach Mao Tse-Tungs Wort,
wie Fische im Wasser, wurden die Bewegungen ernsthafte Anwärter auf
die politische Macht.
Wir sollten selbstverständlich auch anmerken, dass Gruppen, die
sich selbst "sozial-demokratisch" nannten, vor allem in jenen Staaten
stark wurden, die im Zentrum der Weltwirtschaft lagen, während die
anderen, die sich selbst als nationale Befreiungsbewegungen bezeichneten,
im allgemeinen in den mehr oder weniger peripheren Regionen wirkten. Letzteres
galt weitgehend auch für die kommunistischen Parteien. Der Grund scheint
offensichtlich. Die Bewegungen in den abgelegenen Gebieten der Peripherie
sahen, dass ihr Kampf um Gleichberechtigung von ihrer Fähigkeit abhing,
den imperialen Mächten Kontrolle über die Staatsstrukturen abzuringen,
unabhängig davon, ob diese Herrschaft direkt oder indirekt ausgeübt
wurde. Die Bewegungen in den zentralen Gebieten lebten bereits in starken
Staaten. Um in ihrem Kampf um Gleichberechtigung Fortschritte zu machen,
mussten sie ihrer eigenen dominanten Schicht Macht abringen. Aber genau
deshalb, weil diese Staaten stark und wohlhabend waren, war ein Aufstand
keine Erfolg versprechende Taktik und diese Parteien entschieden sich für
den Weg über die Wahlen.
Das siebente gemeinsame Merkmal ist, dass beide Bewegungen mit der
Spannung kämpften, ob "Revolution" oder "Reform" die beste
Methode zur Umwälzung sei. Endlose Debatten drehten sich in beiden
Bewegungen um dieses Thema aber am Ende stellte sich für beide heraus,
dass sie auf einer Fehldeutung der Realität beruhten. In der Praxis
waren die Revolutionäre nicht sehr revolutionär und die Reformisten
nicht immer reformerisch. Sicherlich wurde der Unterschied zwischen den
beiden Ansätzen während der politischen Entwicklung der beiden
Bewegungen immer undeutlicher. Revolutionäre mussten viele Zugeständnisse
machen, um zu überleben. Reformisten lernten, dass hypothetisch legale
Wege zur Veränderung in der Praxis oft gänzlich blockiert waren
und dass Gewaltanwendung, oder zumindest die Androhung, nötig waren,
um diese Barrieren zu durchbrechen.
So genannte revolutionäre Bewegungen kamen oft als Folge der im
Krieg zerstörten bestehenden Autoritäten an die Macht und weniger
durch ihre eigene Fähigkeit, einen Aufstand zu organisieren. Angeblich
sagten die Bolschewiken 1917 in Russland: "Die Macht liegt auf der Strasse."
Einmal etabliert, strebten die Bewegungen danach, an der Macht zu bleiben,
unabhängig davon, wie sie dorthin gekommen waren. Oft bedeutete dies,
die Militanz, und auch die Solidarität mit den Partnern in anderen
Ländern zu opfern. Die Unterstützung dieser Bewegungen durch
das Volk war anfangs gleich groß sowohl für die, die durch Kugeln
als auch für die, die an der Wahlurne gewonnen hatten ihre Machtübernahme
nach einer langen Zeit des Kampfes wurde mit den gleichen Festen auf den
Strassen gefeiert. Schließlich hatten beide Bewegungen das Problem,
die Zwei-Schritt-Strategie umzusetzen. Sobald "Schritt eins" vollbracht
war und sie an der Macht waren, erwarteten ihre Anhänger, dass sie
die Versprechen des zweiten Schrittes hielten: die Welt zu verändern.
Sie entdeckten, wenn sie es nicht schon vorher gewusst hatten, dass die
Staatsmacht begrenzter war, als sie gedacht hatten. Jeder Staat war dadurch
eingeschränkt, dass er Teil eines zwischenstaatlichen Systems war,
in dem die Souveränität keines einzigen Staates absolut war.
Je länger sie im Amt blieben, desto länger schienen sie die Einlösung
ihrer Versprechen hinaus zu schieben. Aus den Kadern einer militanten Mobilisierungsbewegung
wurden Funktionäre einer Partei an der Macht. Ihre gesellschaftlichen
Positionen änderten sich und damit zwangsläufig auch ihre individuelle
Psyche. Was in der Sowjetunion als die Nomenklatura bekannt war, schien
in der einen oder anderen Form in jedem Staat zu entstehen, in dem eine
dieser Bewegungen die Kontrolle übernahm. Es entsteht eine privilegierte
Kaste höherer Beamte, mit mehr Macht und mehr realem Wohlstand als
der Rest der Bevölkerung. Zur gleichen Zeit wurden die gewöhnlichen
Arbeiter eindringlich aufgefordert, noch härter zu arbeiten und noch
größere Opfer im Namen der nationalen Entwicklung zu bringen.
Die militante gewerkschaftliche Taktik, die das tägliche Brot der
sozialen Bewegung gewesen war, wurde als "konterrevolutionär" gebrandmarkt,
diskreditiert und üblicherweise unterdrückt, sobald sie an der
Macht war.
Eine Analyse der Situation der Welt der sechziger Jahre zeigt, dass
die beiden Bewegungen sich ähnlicher als je zuvor waren.
In den meisten Ländern hatten sie Schritt Eins der Zwei-Schritt-Strategie
vollbracht, sie waren praktisch überall an der Macht. Kommunistische
Parteien regierten in einem Drittel der Welt, von der Elbe bis zum Amur.
Nationale Befreiungsbewegungen in Asien und in Afrika, Volksbewegungen
in Lateinamerika und sozialdemokratische Bewegungen oder ihre Nachfolger
im größten Teil der europäischen Umwelt waren, zumindest
auf alternierender Basis an der Macht. Jedoch sie hatten die Welt nicht
verändert, weder 1968 noch danach. Eine Kombination dieser Faktoren,
lag der Weltrevolution von 1968 als Hauptmerkmal zugrunde. Die Revolutionäre
hatten verschiedene lokale Ansprüche, aber sie teilten fast überall
zwei grundlegende Argumente. Zunächst widersetzten sie sich der Hegemonie
der Vereinigten Staaten und der stillschweigenden Duldung dieser Hegemonie
durch die Sowjetunion. Zweitens verurteilten sie die Alte Linke als "nicht
als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems". Dieses zweite
gemeinsame Merkmal entstand aus der massiven Desillusionierung der Unterstützer
der traditionellen antisystemischen Bewegungen über die Art der tatsächlichen
Machtausübung. Die Länder, in denen sie aktiv waren, erlebten
eine Reihe von Reformen üblicherweise gab es Verbesserungen im Bildungs-
und Gesundheitswesen und Beschäftigungsgarantien. Aber es blieben
beträchtliche Ungleichheiten. Die entfremdende Lohnarbeit war nicht
verschwunden. Im Gegenteil, der Anteil der unselbständig Erwerbstätigen
war gestiegen. Es gab wenig oder keine Ausweitung der demokratischen Teilhabe,
weder auf Regierungsebene noch am Arbeitsplatz, oft war es sogar umgekehrt.
Im internationalen Maßstab neigten diese Länder dazu, eine sehr
ähnliche Rolle im Weltsystem zu spielen, wie sie diese auch zuvor
gespielt hatten. So war Kuba vor der Revolution eine Zucker exportierende
Wirtschaft gewesen und blieb das auch danach, zumindest bis zum Ende der
Sowjetunion. Kurz und gut, es hatte sich nicht genug geändert. Die
Beschwerden mögen sich leicht geändert haben, aber sie waren
so real und im Allgemeinen so zahlreich wie zuvor. Die Bevölkerung
dieser Länder wurde von den Bewegungen an der Macht beschworen, Geduld
zu üben, weil die Geschichte auf ihrer Seite stehe. Aber der Geduldsfaden
war am Reißen. Die Völker der Welt beurteilten die Machtausübung
der klassischen antisystemischen Bewegungen negativ. Sie glaubten nicht
länger, dass diese Parteien eine glorreiche Zukunft oder eine gerechtere
Welt bringen würden und sie verweigerten ihnen schließlich die
Legitimation. Nachdem die Völker das Vertrauen in die Bewegungen verloren
hatten, verloren sie auch ihren Glauben an den Staat als Mechanismus der
Transformation. Das bedeutete nicht, dass große Teile der Bevölkerung
in Wahlen ihre Stimmen nicht länger solchen Parteien gegeben hätten,
aber es waren rein defensive Stimmen, des kleineren Übels wegen, keineswegs
eine Bestätigung der Ideologie oder der Erwartungen.
Vom Maoismus nach Porto Alegre
Seit 1968 wurde langsam aber anhaltend nach einer besseren Form
der antisystemischen Bewegung gesucht, eine die wirklich zu einer
demokratischeren, gerechteren Welt führen sollte. Es gab vier
verschiedene Versuche, dies zu erreichen, einige davon dauern noch an.
Der erste war die Blüte vielfältiger Maoismen. Seit den sechziger
bis Mitte der siebziger Jahre entstand eine große Zahl von verschiedenen
konkurrierenden Bewegungen, die meisten klein, aber einige beeindruckend
groß. Sie erhoben den Anspruch, maoistisch zu sein, womit sie meinten,
dass sie auf die eine oder andere Weise von der Kulturrevolution in China
inspiriert waren. Im Prinzip argumentierten sie, dass die Alte Linke gescheitert
war, weil sie nicht die reine Lehre der Revolution gepredigt hatte, die
sie jetzt vortrugen. Aber diese Bewegungen verliefen sich aus zwei Gründen
im Sande. Erstens stritten sie untereinander erbittert darüber, was
die reine Lehre war, und wurden deshalb schnell winzige, isolierte Sektierergruppen;
oder wenn sie groß waren wie in Indien, entwickelten sie sich zu
neueren Versionen der Bewegung der Alten Linken.Der zweite und wesentlichere
Grund war, dass mit dem Tod Mao Tse Tungs der Maoismus in China verschwand
und damit die Quelle ihrer Inspiration. Heutzutage existieren keine solchen
Bewegungen von Bedeutung.
Eine zweite, dauerhaftere Form, die Anspruch auf den antisystemischen
Status erhob, waren die Neuen Sozialen Bewegungen die Grünen und
andere Umweltbewegungen, die Feministinnen, die Kampagnen rassischer und
ethnischer "Minderheiten", wie die Schwarzen in den Vereinigten Staaten
oder die Kinder der Migranten in Frankreich. Diese Bewegungen beriefen
sich auf eine lange Geschichte, tatsächlich aber wurden sie erstmals
in den siebziger Jahren bekannt oder sie erstanden in dieser Zeit in erneuerter
oder militanterer Form. Sie waren im europäischen Umfeld stärker
als anderswo auf der Welt. Ihre gemeinsamen Merkmale waren zum einen die
ausdrückliche Ablehnung der Zwei-Schritt- Strategie der
Alten Linken, deren interner Hierarchien und deren Prioritäten
die Vorstellung, dass die Bedürfnisse von Frauen, "Minderheiten"
und der Umwelt sekundär waren und erst "nach der Revolution" angegangen
werden sollten. Und zum anderen waren ihnen der Staat und staatsorientierte
Aktionen sehr suspekt. In den achtziger Jahren waren alle diese neuen Bewegungen
intern gespalten zwischen Fundis und Realos wie es die deutschen Grünen
nannten. Es stellte sich heraus, dass die Debatte "Revolution oder Reform"
- vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wieder auflebte. Das Ergebnis
war, dass die Fundis in jedem Fall verloren und mehr oder weniger verschwanden.
Die siegreichen Realos erschienen immer mehr als eine Art sozialdemokratische
Partei, nicht allzu verschieden von der klassischen Sozialdemokratie, wenn
auch mit mehr Rhetorik über Ökologie, Sexismus, Rassismus und
verwandte Themen. Heutzutage haben diese Bewegungen in manchen Ländern
noch Bedeutung, aber sie scheinen kaum antisystemischer als die Altlinken
besonders seit die Alte Linke die Lehre aus 1968 gezogen hatte und Themen
wie Ökologie, Geschlechterrollen, sexuelle Orientierung und Rassismus
in ihre Programme aufnehmen musste.
Die dritte Form, die Anspruch darauf erhebt, antisystemisch zu sein,
sind die Menschenrechtsorganisationen. Selbstverständlich gab es manche,
wie z.B. amnesty international, schon vor 1968, aber die meisten wurden
erst in den 80er Jahren eine größere politische Kraft. Unterstützung
kam von Präsident Carter der die Menschenrechtsterminologie in seine
Mittelamerikapolitik aufnahm, und der die Schlussakte von Helsinki 1975
mit den kommunistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa unterzeichnete.
Beides gab den zahlreichen Organisationen, die jetzt die Bürgerrechte
zum Thema machten, die Legitimation des Establishments. In den 90er Jahren
führte das Medieninteresse an ethnischen Säuberungen besonders
in Ruanda und auf dem Balkan zu einer heftigen öffentlichen Diskussion
über diese Themen. Die Menschenrechtsorganisationen erhoben den Anspruch,
im Namen der "Zivilgesellschaft" zu sprechen. Der Begriff selbst weist
auf die Strategie hin: Zivilgesellschaft ist per definitionem nicht der
Staat. Das Konzept bezieht sich auf eine Unterscheidung aus dem 19. Jahrhundert
zwischen dem pays légal und dem pays réel zwischen denjenigen
an der Macht und jenen, welche die öffentliche Meinung repräsentieren
und wirft die Frage auf: wie kann die Zivilgesellschaft die Kluft zwischen
sich und dem Staat schließen? Wie kann sie den Staat kontrollieren
oder den Staat dazu bewegen, ihre Werte anzunehmen? Die Unterscheidung
scheint darauf zu beruhen, dass der Staat derzeit von einer kleinen privilegierten
Gruppe kontrolliert wird, während die "Zivilgesellschaft" aus der
aufgeklärten Gesamtbevölkerung besteht. Diese Organisationen
bewirkten, dass sie einige Staaten vielleicht sogar alle dazu bewegten,
ihre Politik in Bezug auf die Menschenrechte zu verändern. Aber im
Laufe des Prozesses wurden sie mehr zu Anhängseln des Staates als
zu dessen Gegnern und schienen im Großen und Ganzen wenig antisystemisch
zu sein. Sie wurden NGOs, zumeist im Zentrum angesiedelt, und doch
versuchten sie, ihre Politik in der Peripherie durchzusetzen, wo sie oft
eher als Agenten ihrer Heimatländer angesehen wurden als deren Kritiker.
Auf jeden Fall haben diese Organisationen selten die Unterstützung
der Massen mobilisiert und verließen sich vielmehr auf ihre Fähigkeit,
Nutzen aus der Macht und der Stellung ihrer militanten Elite im
Zentrum zu ziehen.
Die vierte und jüngste Variante sind die so genannten Antiglobalisierungsbewegungen
eine Bezeichnung, die weniger von den Bewegungen selbst benützt
wird als vielmehr von ihren Gegnern. Vor der WTO-Konferenz in Seattle im
Jahr 1999 wurde dieser Begriff in den Medien kaum benützt. Die "Globalisierung"
als Schlagwort der neoliberalen Vertreter des Freihandels für Waren
und Kapital, war während der 90er Jahre eine starke Kraft geworden.
Das Interesse der Massenmedien galt dem Weltwirtschaftsforum in Davos,
dessen institutionelle Verankerung durch das Washingtoner Abkommen geschaffen
wurde, das stärkte die Politik des IWF und der WTO. Seattle sollte
ein Schlüsselmoment für die erweiterte Rolle der WTO sein. Die
massiven Proteste, welche die Durchführung behinderten, überraschten
viele. Unter den Demonstranten waren sehr viele Nordamerikaner von den
Altlinken, den Gewerkschaften, den neuen Bewegungen und anarchistischen
Gruppen. Dass der AFL-CIO (American Federation of Labor - Congress of Industrial
Organizations - der größte Gewerkschaftsbund der USA) bereit
war, bei einer so militanten Aktion an der Seite von Umweltgruppen zu stehen,
das war in der Tat etwas Neues, insbesondere für die USA. Die fortdauernden
weltweiten Demonstrationen nach Seattle gegen die zwischenstaatlichen Regierungstreffen
mit ihrer neoliberalen Agenda, führten hingegen zur Organisation des
Weltsozialforums, dessen erstes Treffen in Porto Alegre stattfand. Das
zweite im Jahr 2002 zog über 50.000 Delegierte aus über 1000
Organisationen an. Seitdem fanden eine Reihe regionaler Treffen statt,
die das WSF 2003 vorbereiten.
Die Charakteristika dieser neuen Bewegung, die den Anspruch erhebt, antisystemisch zu sein, unterscheiden sich stark von denen früherer Versuche.
Zunächst versucht das WSF, all die vorhergehenden Formen zusammenzubringen die Altlinken, die neuen Bewegungen, Menschrechtsgruppen und andere, die nicht so einfach in diese Kategorien einzuordnen sind und umfasst Gruppen, die streng lokal, regional, national oder transnational organisiert sind. Die Basis für die Teilnahme ist ein gemeinsames Ziel der Kampf gegen die sozialen Übel in der Folge des Neoliberalismus und der gemeinsame Respekt für die jeweils vorhandenen Prioritäten. Wichtig ist, dass das WSF versucht, die Bewegungen aus dem Norden und dem Süden auf einer gemeinsamen Ebene zusammenzubringen. Der einzige Slogan bis jetzt lautet "Eine andere Welt ist möglich". Noch überraschender ist, dass das WSF versucht, all das zu tun, ohne eine umfassende Organisationsstruktur zu schaffen. Zur Zeit gibt es nur ein internationales Koordinationskomitee aus rund 50 Personen, welche die unterschiedlichen Bewegungen und Weltgegenden repräsentieren. Obwohl von den Altlinken ein Grummeln zu vernehmen war, das WSF sei nur eine reformistische Fassade, gab es bis jetzt vergleichsweise nur wenige Beschwerden. Die Grummler stellen nur Fragen, sie klagen noch nicht an. Es ist natürlich weithin anerkannt, dass das Ausmaß dieses Erfolgs auf der negativen Ablehnung des Neoliberalismus als Ideologie und als institutionelle Praxis beruht. Von vielen wurde gefordert, dass das WSF ein klareres, positiveres Programm propagieren müsse. Ob es das leisten kann und weiterhin die Einheit aufrechterhalten kann, ob es ohne eine umfassende (unvermeidlicherweise hierarchische) Struktur auskommen kann, ist die große Frage des nächsten Jahrzehnts.
Eine Zeit des Übergangs
Wenn, wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, das moderne Weltsystem
in einer strukturellen Krise steckt und wenn wir uns in einer "Zeit des
Übergangs" befinden einer Zeit der Entscheidungen und des Chaos
dann ist es offensichtlich, dass die Themen, mit denen die antisystemischen
Bewegungen konfrontiert sind, sich ganz anders stellen als im 19. und auch
im 20. Jahrhundert.
Sowohl die staatsorientierte als auch die Zwei-Schritt-Strategie
sind irrelevant geworden. Das erklärt das Unbehagen der meisten
Nachkommen der vormaligen antisystemischen Organisationen, keine langfristigen
oder unmittelbaren politischen Ziele propagieren zu können. Die wenigen,
die es versuchen, sehen sich mit der Skepsis ihrer erhofften Anhänger
konfrontiert, oder schlimmer noch, mit Gleichgültigkeit.
Eine solche Zeit des Übergangs hat zwei Charakteristika, welche die eigentliche Idee einer antisystemischen Strategie dominieren.
Als erstes werden diejenigen an der Macht nicht länger versuchen,
das bestehende System aufrechtzuerhalten (da es zur Selbstzerstörung
verdammt ist.) Sie werden vielmehr versuchen einen Übergang zum Aufbau
eines neuen Systems sicherzustellen, das die schlimmsten Merkmale des bestehenden
wiederholen wird seine Hierarchien, Privilegien und Ungleichheiten. Auch
wenn sie jetzt noch keine Sprache benützen, die das Ende der bestehenden
Strukturen ankündigt, implementieren sie eine Strategie auf der Grundlage
solcher Annahmen. Natürlich ist ihr Lager nicht einheitlich. Das zeigt
sich an dem Konflikt zwischen den so genannten gemäßigten rechten
"Traditionalisten" und den ultrarechten, militaristischen Falken.
Aber sie arbeiten hart daran, Rückhalt für Veränderungen
zu schaffen, die keine Veränderungen sein werden, ein neues System
so schlecht wie oder schlechter als das gegenwärtige.
Das zweite grundlegende Merkmal ist, dass eine Zeit des systemischen
Übergangs von tiefer Unsicherheit geprägt ist und es ist unmöglich,
zu wissen, was das Ergebnis sein wird.
Die Geschichte steht auf niemandes Seite.
Jeder von uns kann die Zukunft beeinflussen, aber wir wissen nicht,
und können nicht wissen, in welcher Weise auch andere Einfluss nehmen.
Der dem WSF zugrunde liegende Rahmen reflektiert dieses Dilemma und unterstreicht
es.
Strategische Überlegungen
Eine Strategie für die Zeit des Übergangs sollte deswegen vier Elemente umfassen allesamt leichter gesagt als getan.
Das erste Element ist ein Prozess konstanter, offener Debatte
über den Übergang und die Ergebnisse, die wir erhoffen. Das war
noch nie einfach, und den historischen antisystemischen Bewegungen gelang
es meist sehr schlecht. Aber die Atmosphäre ist heute günstiger
denn je und die Aufgabe bleibt dringlich und unabdingbar wobei die Rolle
der Intellektuellen an dieser Stelle wichtig ist. Die Struktur des WSF
selbst ist Ursache dieser Debatte, wir sollten darauf achten, ihren offenen
Charakter zu erhalten.
Das zweite Element sollte sich von selbst verstehen: eine antisystemische
Bewegung darf kurzfristige defensive Aktionen nicht vernachlässigen,
auch nicht Wahlkämpfe. Die Bevölkerung dieser Welt lebt in der
Gegenwart und ihre Bedürfnisse dürfen nicht ignoriert werden.
Eine Bewegung, die sie vernachlässigt wird ihre breite passive Unterstützung
verlieren, die für ihren langfristigen Erfolg wesentlich ist. Aber
Motiv und Rechtfertigung für die defensiven Aktionen dürfen nicht
sein, Abhilfe zu schaffen für ein zum Scheitern verurteiltes System,
sondern vielmehr zu verhindern, dass seine negativen Auswirkungen kurzfristig
schlimmer werden. Das ist psychologisch und politisch ein beträchtlicher
Unterschied.
Das dritte Element muss sein, mittelfristige, vorübergehende
Ziele zu setzen, welche die richtige Richtung andeuten. Ich würde
sagen, dass eines der sinnvollsten Ziele substantiell, politisch und
psychologisch gesehen der Versuch ist, selektiv, aber in zunehmendem
Maße Güter der Warenlogik zu entziehen. Wir unterliegen heute
einem Hagel neoliberaler Versuche, Dinge zur Ware zu erklären, die
früher selten oder nie als für den privaten Handel geeignet betrachtet
worden waren der menschliche Körper, das Wasser, die Krankenhäuser.
Wir müssen uns dem nicht nur widersetzen, sondern uns in die entgegensetzte
Richtung bewegen. Industrien, besonders zum Scheitern verurteilte Industrien,
sollten der Warenlogik entzogen werden. Das bedeutet nicht, dass sie "verstaatlicht"
werden sollten was zumeist einfach eine andere Art der Warenlogik ist.
Es bedeutet, dass wir Strukturen schaffen sollten, die auf dem Markt
agieren, deren Ziel Leistung und Fortbestehen sind und N
I C H T DER PROFIT. Wie wir aus der Geschichte von Universitäten
und Krankenhäusern wissen, kann das erreicht werden, nicht von allen,
aber von den besten. Warum sollte eine solche Logik für Stahlwerke,
die von der Standortverlagerung bedroht sind, unmöglich sein?
Und schließlich , als viertes Element, müssen wir unseren langfristigen Schwerpunkten eine tiefere Bedeutung verleihen. Darunter verstehe ich eine Welt, die
relativ demokratisch und relativ gerecht ist.
Ich sage "relativ", weil nur das realistisch ist. Es wird immer Ungleichheiten geben aber es gibt
keinen Grund, warum sie massiv, verkrustet oder vererblich sein sollten.
Ist es das, was früher Sozialismus oder gar Kommunismus genannt wurde?
-Vielleicht, -vielleicht nicht. Das bringt uns zum Thema der Debatte zurück.
Wir müssen aufhören zu vermuten, wie die bessere (nicht die perfekte) Gesellschaft sein wird. Wir müssen darüber diskutieren, sie skizzieren, mit alternativen Strukturen zu ihrer Verwirklichung experimentieren. Wir müssen das tun zeitgleich mit den ersten drei Teilen unseres Programms für eine chaotische Welt in einem systematischen Übergang. Und wenn dieses Programm unzulänglich ist, und das ist es wahrscheinlich, dann muss genau diese Unzulänglichkeit Teil der Debatte sein, die Punkt Eins des Programms ist.